Der Marktlückenmann
In letzter Zeit fragte sich Benno des Öfteren, ob mit ihm vielleicht
etwas nicht stimmte. Während seine Altersgenossen, mittlerweile auch
die meisten der ehemaligen Studienkollegen, in festen beruflichen Sätteln
saßen, Familien gründeten oder zumindest begonnen hatten,
ihre Zukunft energisch anzupacken, wurschtelte er sich als Taxifahrer und
Gelegenheitsjobber durch und war bisher sogar ganz zufrieden gewesen.
Oder genauer gesagt: Die Unzufriedenheit war jedenfalls nicht so groß,
dass sie ihn dazu gebracht hätte, Gott und die Welt in Bewegung zu setzen,
um irgendeine Leiter hinauf zu kriechen. Zumal real nicht einmal eine Sprosse
in Sicht war, für die es sich gelohnt hätte, auch nur das Bein zu heben.
Sozialer Abstieg da er nach dem Studium nie zu einem regelrecht
angestellten Soziologen aufgestiegen war, konnte Abstieg nicht gerade das
richtige Wort für seine Lage sein. Er hoffte, es irgendwann doch noch
hinzutricksen. Ihm würde schon irgendetwas einfallen. Bloß was?
Das war die Frage.
Man konnte es für einen Skandal halten, dass ein mit öffentlichen
Geldern ausgebildeter Vollakademiker nun als Taxifahrer oder Fensterputzer
arbeitete, aber man musste auch die positiven Seiten dieser Angelegenheit
sehen, die über das banale Einzelschicksal hinausgingen. Es konnte
auf diesem Wege entschieden etwas zur Hebung des Bildungsniveaus der
Bevölkerung getan werden, etwa indem der Taxifahrer seine Kundschaft
in angeregte Diskussionen über Blochs "Prinzip Hoffnung"
verwickelte. Oder der Fensterputzer hielt der beim Nägellackieren
ertappten Bürodame einen Zettel an die Scheibe: "Wissen Sie noch,
wann der Dritte Punische Krieg endete?!"
Solcherart betrachtete Benno seine Lage, aber das war seiner Umwelt
immer schwerer zu vermitteln.
Sein alter Studienfreund Max betrieb einen mittlerweile gut gehenden Copyshop
im Univiertel. "Weißt du", pflegte er zu sagen, "ich habe
aus der Not eine Tugend gemacht." Und die bringe ihm mehr ein als BAT II a.
Was Benno denn so treibe. Ob sich inzwischen etwas ergeben habe? Wenn er wolle,
er meine ja nur, könne er wieder bei ihm mitarbeiten. Mehr als beim Taxi
spränge sicher heraus. Und wenn auch nicht mehr, so doch geregelte Zeiten
und unter Leuten sein!
Benno war das immer unangenehm.
Kürzlich hatte Benno eine seltsame Begegnung gehabt, von der er Max
brühwarm erzählte. Nur gut, dass er hin und wieder merkwürdige
Zeitgenossen transportierte und über diese berichten konnte. Ein Mann,
den er zum Flughafen fahren sollte, hatte sich ihm, was ziemlich unüblich war,
kurz nach dem Anfahren namentlich vorgestellt.
"Hans Günter, angenehm."
"Ich heiße Benno", erwiderte Benno irritiert und verkniff sich
den Zusatz "heterosexuell".
"Günter ist der Nachname", sagte der Mann, der Anfang Fünfzig
zu sein schien, einen grauen Bürstenhaarschnitt und eine Goldrandbrille
trug und ansonsten völlig unauffällig aussah. "Klingelt es denn
nicht bei Ihnen?"
"
Schmitt", sagte Benno, "Benno Schmitt. Nein, wieso?"
"Ich bin Landtagsabgeordneter von hier", sagte Hans Günter,
"und ich spreche das an, damit Sie nicht denken, ich verschwende hier
Steuergelder und lass mich mit dem Taxi raus fahren, statt die S-Bahn zu nehmen.
Nein, natürlich zahle ich das Taxi aus meiner eigenen Tasche. Also, nicht dass
morgen in der AZ oder so steht: Wie MdL Günter unser aller Geld verprasst!"
"Normal hätte ich ja gar nicht gewusst, dass Sie
Abgeordneter sind", wandte Benno ein.
Sein Fahrgast atmete laut hörbar aus und schaute eine Weile aus dem rechten
Seitenfenster. Dann drehte er sich Ruck haft zu Benno hin.
"Es ist meine zweite Legislaturperiode", erklärte er mit einem
missbilligenden Unterton, "Sie sind doch andauernd unterwegs, da müssen
Sie doch zum Beispiel überall die Wahlplakate gesehen haben. Ich habe auch
für das Europaparlament kandidiert."
"Und sind Sie gewählt worden?" fragte Benno, der sich sogleich der
Unlogik seiner Einlassung bewusst wurde.
"Nein, dann wäre ich natürlich nicht mehr im Landtag. Und wenn ich das
mal sagen darf, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber ich stelle immer wieder fest,
dass die Bürger ihre Parlamentsabgeordneten nicht kennen, dabei leben wir
in der repräsentativen Demokratie, und die wird zur Makulatur, wenn der Bürger
sich derart abstinent
wie soll ich es ausdrücken, wenn er politisch
gar keinen Anteil nimmt."
"Ich habe generell ein sehr schlechtes Namengedächtnis",
sagte Benno einlenkend. Eigentlich hielt er sich für einen politischen Menschen,
der das Zeitgeschehen in der Tagesschau und in den Zeitungen relativ interessiert
verfolgte. Von einem Hans Günter hatte er noch nie gehört. Oder?
Tatsächlich hatte er ein schlechtes Namengedächtnis, aber wenn zum Beispiel
ein Bundesministerium umbesetzt wurde, legte er Wert darauf, sich den Namen des
neuen Amtsinhabers bewusst einzuprägen, was immer dann nötig war,
wenn es jemand war, den bis dahin kaum ein Mensch gekannt hatte. Vielleicht sollte er
doch einmal auch die Liste der MdLs auswendig lernen oder wenigstens die Namen derer
aus seinem Wahlkreis. Wobei ihm auffiel, dass er auch seinen ihn repräsentierenden
Bundestagsabgeordneten nicht benennen konnte. Peinlich.
"Aber jetzt, wo Sie so neben mir sitzen, glaube ich, dämmert es mir
doch", log er, um Hans Günter nicht weiter zu verärgern. Dieser
lehnte sich befriedigt zurück.
Auf der Rückfahrt beschäftigte ihn der Vorfall noch eine Weile.
Hans Günter, der ihm am Flughafen das grandiose Trinkgeld von einer harten
deutschen Mark zwanzig gegeben hatte "85,80 bitte"
"Machen Sie 87 draus!" , war deshalb unbekannt, weil er
keine richtige Werbung für sich machte, ganz klar. Ihm fehlte ein
persönlicher Referent, der dafür sorgte, dass der Name Hans Günter
in aller Munde war. Und dies natürlich nicht durch einen Skandal, sondern
durch positive Öffentlichkeitsarbeit. "Hans Günter spendiert
Apfelkuchen im Altenstift", oder: "Fröhliche Waisenkinder
winken Hans Günter nach", oder: "Landwirtinnen überreichen
Hans Günter ihre frische Milch."
Wieder eine Gelegenheit verpasst! Denn wer wäre ein besser geeigneter
Referent für Hans Günter als Benno Schmitt? Fand jedenfalls Max,
und wieder war sich Benno nicht ganz sicher, ob der das ernst meinte oder nicht.
Ein anderes Highlight seiner Fahrerei, das er schon oft zum Besten gegeben hatte,
war die Nacht, in der er eine eigentlich recht attraktive und noch gar nicht einmal
so alte Frau quer durch die Stadt zu einer bestimmten Adresse bringen sollte.
Es war fast ein Uhr morgens, und die Frau war, wie sich schnell herausstellte,
leicht angetrunken und entsprechend redselig.
"Da in der Straße, da wohnt nämlich so ein Kavalier. Der hat inseriert.
'Kavalier verwöhnt Sie', und jetzt gehe ich zu dem hin. Jawohl." Sie knetete
mit finsterer Miene ihre Handtasche.
"Hm, hm", sagte Benno.
"Weil
Männer gehen schon seit der Steinzeit in Puffs.
(Vor Benno tauchte das Bild einer mit Bärenfellen ausgelegten Höhle auf.)
Und jetzt haben wir die Emanzipation. Was ist also dabei. Geld genug habe ich.
Ich bin Informatikerin. Ich verdiene bestimmt mehr als Sie."
"Sicherlich", sagte Benno beschwichtigend.
"Oder finden Sie das merkwürdig? Ich meine, dass ich
jetzt zu dem hin gehe?"
"Überhaupt nicht", antwortete er, "es ist, eh, doch ganz
natürlich." Das fand er zwar eigentlich nicht, insbesondere irritierte
ihn, dass sie so offen darüber sprach, was sie vorhatte. Andererseits hatte
er schon unzählige Male Männer zu bestimmten Etablissements kutschiert;
die Fahrten waren sogar ziemlich begehrt, weil es in der Regel Provision gab,
speziell, wenn man einen Ortsunkundigen ablieferte. "Wo kann ich denn hier
Frauen treffen, na, Sie wissen schon
", lautete dann der Auftrag.
"Ich mach das zum ersten Mal", sagte die Frau, "aber
wissen Sie
seit Monaten häng ich herum, nichts tut sich,
und immer nur
Sie wissen schon."
Er nickte stumm und überlegte kurz, ob er ihr sagen sollte, dass er auch
seit geraumer Zeit 'immer nur
', aber das ließ er lieber, um sie nicht
auf den Gedanken zu bringen, sich gleich ihn statt diesen Kavalier zu greifen.
Sie war ihm zwar nicht unsympathisch, aber das würde zu weit gehen.
Als er bei der angegebenen Adresse vor einem modernen fünf- oder
sechsstöckigen Haus in einer reinen Wohngegend stoppte, sagte die Frau:
"Ach bitte, wie gesagt, Geld habe ich genug. Was würde es denn kosten,
wenn Sie hier noch eine halbe Stunde stehen bleiben, damit
falls
wenn ich
wenn es also, äh, doof ist, ich hier schnell wegkomme?"
Benno verkniff sich die Frage, was denn der Kavalier für die Stunde verlangte.
"So dreißig Mark?"
"O. k. Ich gebe Ihnen also jetzt das Fahrgeld und die dreißig extra",
sie nestelte die Scheine heraus, "und wenn ich in einer halben Stunde nicht
wieder auftauche, können Sie wegfahren. Ich heiße übrigens Elvira,
Elvira Kohut, und der Typ da, der hat sich mit 'Siegfried' am Telefon gemeldet,
also ich weiß nicht, ob der in echt auch so heißt, aber genau, klingeln
soll ich bei 'Kernberg', also heißt der wahrscheinlich Siegfried Kernberg,
und ich werde dem zur Sicherheit auch gleich sagen, dass Sie Bescheid wissen.
Oder finden Sie das übertrieben?"
Das finde er überhaupt nicht, beeilte er sich festzustellen, und sie stieg
aus und ging mit etwas unsicheren Schritten auf das Haus zu. Er beobachtete,
wie sie, soweit er es erkennen konnte, in der dritten Klingelreihe von unten den
Knopf drückte, dann ging die Tür auf, und sie verschwand.
Benno schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens ein, fischte sich den Krimi aus
dem Handschuhfach heraus, den er vor ein paar Tagen angefangen und seitdem während
der Wartezeiten in Portionen von ein bis drei Seiten gelesen und wieder vergessen hatte,
so dass er nicht mehr wusste, worum es ging, als er das Buch bei der umgeknickten Seite
aufschlug und las: "Er hätte Ronald auf jeden Fall genau informieren
müssen." Welchen Ronald? Worüber denn noch einmal? Er schlug das Buch
wieder zu und betrachtete die Fassade des Hauses, vor dem er parkte. Er zählte
die Stockwerke ab. Wo hatte sie geklingelt? Dritte Reihe von unten, also wahrscheinlich
zweiter Stock. Dort war Licht in mehreren Fenstern. Er stieg aus, um zu checken,
ob der Name 'Kernberg' rechts oder links stand. Er stand links, dann mussten es also
diese zwei linken Fenster sein. Oder das Ganze war Spiegel verkehrt angeordnet,
dann konnte es sich auch um dieses eine rechte Fenster handeln. Erkennen konnte er
jedenfalls nichts, die Gardinen waren auf beiden Seiten zugezogen.
Vor ihm tauchte eine Zeitungsmeldung auf, bebildert mit Elviras Konterfei:
"In den Isarauen wurde gestern morgen die Leiche von Elvira K. aufgefunden.
Wer hat sie zuletzt gesehen? Sachdienliche Hinweise nimmt
"
Er stieg wieder aus, um sich in der kühlen Nachtluft die Beine zu vertreten
und vor allem seinen Kopf zu lüften. Wahrscheinlich war wirklich nichts dabei,
wenn sich eine beruflich erfolgreiche Informatikerin hin und wieder einen Lover kaufte,
sich amüsierte und beim Erstkontakt vorsichtshalber einen Zeugen anheuerte.
In diesem Fall war er das unvermutet geworden. Immerhin gab es dreißig Mark
für lau, denn er hatte den Taxameter natürlich abgeschaltet. Wenn aber dieser
Siegfried Kernberg ein Psychopath war, würden ihn Elviras Angaben, dass unten ein
gewisser Taxifahrer dreißig Minuten wartete, der auch wisse, warum sie zu wem zu
dieser nachmitternächtlichen Zeit sich hatte fahren lassen, nicht bremsen,
er würde trotzdem sein blutiges Handwerk verrichten: sie erwürgen,
zerstückeln, sich dann an der noch warmen Leiche vergehen, oder umgekehrt:
sich erst vergehen, sie dabei zerstückeln, und dann erwürgen.
Meine Güte. Und wahrscheinlich gab es Todesarten, die ihm nicht im Traum
einfallen würden. Wer träumte schon vom Tod? Aber tatsächlich
hatte er in der letzten Nacht oder der Nacht davor wann war für
ihn "Nacht", wo er, wenn es dunkel war, arbeitete und den halben Tag
verschlief? wieder einmal geträumt, dass er mit schwindenden Kräften
über einer schroffen Schlucht zappelte, die so tief war, dass man den Grund nicht
sehen konnte und dann hatte er gedacht, jetzt könnt ihr mich doch alle mal, und
losgelassen und statt zu sterben, war er mit einem triumphierenden Gefühl
aufgewacht.
Sie war jetzt genau zwanzig Minuten drin. Im Treppenhaus des von ihm observierten
Objekts ging die Beleuchtung an, und wenig später erkannte er zu seiner
Erleichterung Elvira, die aus dem Haus kam und winkend auf seinem Wagen zueilte.
Sie riss die Beifahrertür auf und ließ sich laut seufzend
auf den Sitz plumpsen.
"Das war ja vielleicht schrecklich", platzte sie los, "wie der
allein schon aussah! Ich meine, wenn man sich als Kavalier anbietet, sollte man
doch wenigstens ein bisschen attraktiv sein! Und dann hatte er im Wohnzimmer
eine Couchgarnitur und eine dunkle Schrankwand stehen, so was Spießiges
hab ich schon lange nicht mehr gesehen, und dann stand die Tür zum Schlafzimmer
offen, da war so ein breites Bett drin, und irgendeine schummrige Beleuchtung, und
ich saß also die ganze Zeit auf diesem Sofa und guckte durch diese Tür
hindurch auf dieses Bett
"
"Also zurück in die Agnesstraße?" fragte Benno. Sie nickte.
"
und dann fragte er, ob ich vorher ein Video anschauen wollte,
zum Antörnen, und ich sagte, dass ich eigentlich dachte, das macht er,
das Antörnen, nicht, und dann ging er in die Küche und kam mit zwei
Gläsern Sekt zurück, und der Sekt war zu warm und zu süß,
na ja, und dann dachte ich, wenn ich mit dem in dieses schummrige Zimmer gehen soll,
dann muss der mir Geld geben, also wirklich!"
Sie schüttelte den Kopf und fing an zu lachen. "Da täten ja Sie mir
noch besser gefallen!"
Benno wusste nicht, ob er das für ein Kompliment halten sollte, und grinste.
"Ich bleibe lieber beim Taxi Fahren."
Immerhin wusste er nun einiges, was man als Kavalier
auf jeden Fall vermeiden musste: Sofas und Schrankwände, offen stehende Türen
mit schummrigen Betten dahinter, lauen, süßen Sekt. Und bloß keine Videos
anbieten. Da er weder Sofas noch Schrankwände, noch ein separates Schlafzimmer,
noch einen Video-Recorder besaß, wären diese Fehler leicht zu umgehen.
Allerdings würde eine Dame in seinem Zimmer auch Augen machen, da müsste er
vorher mindestens zwei Tage aufräumen und dekorieren, ein Aufwand, der in keinem
Verhältnis zu den Einnahmen stand. Er bedauerte, Elvira nicht gefragt zu haben, was denn
so eine Bumserei mit Siegfried gekostet hätte.
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